• 7. Februar. 2012 /  Paraguay, Südamerika

    Reisepause in der grünen Hölle, 24.11.2011 – 12.2.2012

    Alle Paraguayer, alle Rosaleder haben uns gewarnt. Wir wussten es!

    Wir wussten, dass es hier im Chaco in der Regenzeit bis über 45° heiss werden kann; wir wussten, dass nach einem Regenguss Wolken von aggressiven Moskitos, die höchst tagaktiv sind, nur darauf warten, uns zu pisaken.

    Trotzdem sind wir hier und wollen sogar über 2 Monate lang bleiben. Warum also sind wir nach nur 4 Monaten schon wieder hier? Auch der Chaco hat seine Vorteile und er hat uns in seinen Bann gezogen. Es ist die nahezu unberührte Natur mit ihrer einzigartigen Flora und Fauna; es ist die nach Brasilien so sehr ersehnte Ruhe vor menschlichem Lärm. Es ist aber auch ein Ort, an dem wir die südamerikanischen Sommerferien abwarten können und dies erst noch Budget erholend.

    Wir mieten bei Uschi und Ändu ein Haus und richten uns ein. Von Ueli, dem ältesten Rosaleder bekommen wir sogar noch eine Motocross Maschine, damit sich auch Hidalgo ausruhen kann, denn, oh Schreck, wir haben eine gebrochene Felge. Toll, hier eine Alufelge zu finden, kann ja heiter werden.

    Die Tage, oder besser gesagt die Vormittage, danach wird es uns zu heiss, verbringen wir mit diversen Jobs bei Ernst. Bei ihm haben wir ja auch im Winter, im Juli gewohnt. Wir bauen Geflügelgehege, einen neuen Schweinestall, putzen, kochen, schlachten und metzgen, stutzen Truthahnflügel, kastrieren Ferkel und vieles mehr. Oder wir fahren ins nächste Dorf Filadelfia um einzukaufen. Hier muss der Einkaufszettel stimmen, sind es doch um die 2 Stunden Fahrt einen Weg. Man stelle sich vor, ein St. Galler fährt nach Bern um einzukaufen.

    Und wir warten auf ein jährliches, grosses Spektakel, den Beginn der Regenzeit. Früher als normalerweise üblich geht es los. Der Himmel verdüstert sich, die Wolken quellen in Übergrösse und mit der Abenddämmerung öffnen sich die Schleusen zu einem 12-Stunden Gewitter. 160 mm in wenigen Stunden, das ist für den trockenen Chaco schon ziemlich viel. Die Hauszisternen sind  danach bereits voll und es darf Wasser auch nur mal zum Spass gebraucht werden. Sonst absolut verboten hier. Füdliblut tanzen wir wie kleine Kinder in dem so willkommenen, kühlenden Nass.

    Am Tag danach beobachten wir, wie sich die Landschaft blitzartig verändert. Die braunen Gräser werden grün und wachsen über 10 cm am Tag. Blumen und Kakteen öffnen ihre Knospen zu wundervollen Blüten. In der Sukkulentenausstellung in Zürich stehen die Menschen Schlange, um eine „Königin der Nacht“ zu sehen. Wir schaffen hier dutzende in einer Nacht.

    Für uns aber die grösste Attraktion ist das Erwachen der Frösche und Kröten. Nach einem 9 Monate dauernden Trockenschlaf tief im Erdreich entsteigen dutzende Arten in Millionenzahl dem immer weicher werdenden Boden. Danach geht es erst richtig los. In jedem neu entstandenen Tümpel oder Pfütze wird nun mit den unterschiedlichsten Tönen nach Partnern gesucht. Die Zeit bis das Wasser verdunstet ist kurz, also nutzen sie diese. Ein ganz normales Quak hört man kaum. Es ist eine Orgie mit allen Geräuschen dieser Welt.

    Eine Art ruft mit einem an- und abschwellenden Heulton. Machen das mehrere hundert zusammen, hört sich das an wie ein Formel 1 Rennen. Dann gibt es die Rasierapparate, die Kettensägen, die Alarmanlagen, die Hupen und Tröten. Es gibt melodische Flöten oder nur ein tiefer Plopp. Alles zusammen ergibt ein nächtelanges Konzert, das jede brasilianische Musikanlage übertönen kann.

    Jeden Tag erwachen andere Kreaturen, vor allem aber die Insekten. Die Ameisen und Termiten haben Flugwetter in solcher Anzahl, dass ein Schwarm Schatten wirft. Es kommen Käfer, Rüssler, Heuschrecken, Libellen und weiss der Teufel was noch alles. Die meisten verlieren nach dem Hochzeitsflug ihre Flügel und versuchen dann ein neues Volk zu gründen.

    Übrigens: Obwohl eine Ameise je nach Art nur zwischen 1 – 5 mg auf die Waage bringt, wiegen alle Ameisen der Erde zusammen etwa gleich viel wie alle Menschen. Nur haben wir jetzt das Gefühl, alle leben hier im Chaco.

    Der Boden ist bedeckt mit Insektenflügel und überall beginnt das grosse Fressen. Die ganze Futterkette hat den Tisch reich gedeckt. Für Moskitos und Fledermäuse, Schlangen und Skorpione, Leguane und Echsen, Hasen, Rehe und Füchse, bis hin zum Puma und Jaguar ist üppig angerichtet. Von letzteren sehen wir wie gehabt immer nur die Spuren, gehen aber regelmässig auf die Pirsch für ein Fotoshooting.

    Da bricht z. B. eine Boa Constrictor in einen Hühnerstall ein, verschlingt 2 Hühner und ist danach viel zu dick, um wieder das Weite suchen zu können. 2 Wochen auf Diät braucht sie um ihr Idealgewicht zurück zu bekommen, damit sie sich wieder trollen kann. Oder unsere Hausvogelspinne. Die wird kurzerhand von einem grossen, weissen Skorpion angegriffen, getötet und ausgesogen. Auch der Besuch einer hübschen Korallenschlange auf unserer Terrasse war spannend.

    Weihnachten und Neujahr sind ebenfalls sehr speziell hier. Felix schlachtet mit Alois zu Heiligabend ein Schwein, das von Kaspi herrlich zubereitet wird. Franziska bastelt aus allerlei Zapfen und Früchten Weihnachtsdeko und schmückt unseren Christbaum, eine 4 m hohe Kaktee. Sylvester grillen alle zusammen beim alten Schulhaus bei gegen 40° am Abend und Felix, bald wie gewohnt, spielt auf zu Stimmung und Tanz. Leider nicht sehr lange, da sein Keyboard den Geist aufgibt. Mit einem mulmigen Gefühl nehmen wir am nächsten Tag das Elektronenteil auseinander und finden… einen Käfer, der sich mitten auf einer Elektronikplatine ein Nest gebaut hat.

    Ernst muss für einige Tage nach Asunción und so kommen wir zu einem Extrajob. Wir sollen die ganze Farm hüten. 60 Kühe und Rinder, 14 Schafe,  80 Truten, 6 Schweine, 6 Pfauen und viele andere Vögel sowie je 2 Katzen und Hunde. Erschwerend dazu kommt in der 1. Nacht eine Regenfront wie seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr. 220 mm in 10 Stunden. Nach den schon vor einer Woche gefallenen 165 mm. Das bedeutet hier in dieser weiten Ebene Land unter. Das Haus von Ernst liegt plötzlich auf einer Insel, die Erdstrassen stehen bis einen Meter unter Wasser. Ernst kann nicht wie geplant nach 3 Tagen zurück fahren und so müssen wir 5 Tage den Weg zur Farm zu Fuss durch den Moskito verseuchten Sumpf in Angriff nehmen.

    Wir schaffen alles und nach 4 Tagen ist auch das Wasser wieder soweit gesunken, dass alle normal funktionieren können. Beides war ein grosses Erlebnis. So z. B. sind wir Lebensretter: 5 Trutenküken konnten im Aufzuchtsgehege dem vielen Wasser nicht entrinnen und sind beinahe ertrunken. Wir fanden sie mehr tot als lebend im tiefen Schlamm. So haben wir sie unter fliessendem Wasser sauber gemacht und in Heu eingepackt. In der Trockenheit und der Wärme sind 4 Küken wieder zum Leben erwacht und 2 Tage später wieder quitschfidel ins Gehege entlassen worden. Nur ein einziges Tier ist den Fluten zum Opfer gefallen. Fast ein kleines Wunder.

    Dafür kommen wieder die Frösche in breiter Front. Wir sehen Kaulquappen in der Grösse von Felix‘s Hand. Und die unselig grausigen Skorpionswürmer, bis 20 cm lang, fühlen sich nach dem Regen auch pudelwohl, vor allem in den Häusern. Wie diese gefährlich stechenden Viecher, die mit den Skorpionen verwandt sind, in Schlafzimmer, Bad und Küche gelangen ist allen ein Rätzel. Wir kehren unser Haus von oben bis unten durch. Alles klar, die Luft ist rein. Denkste, plötzlich krabbelt wieder so ein Unding unter dem Bett hervor.

    Liebenswürdigerweise zeigen Rosie und Sämi Franziska etwas aus ihrer früheren Berufswelt. Sie darf die nigelnagelneue Behindertenwerkstatt besichtigen. Der Leiter zeigt stolz die freundlichen Räumlichkeiten, die Schreinerei und die Metallwerkstatt und beantwortet Fragen nach Personal, Arbeitsaufträgen, Finanzierung und weiss Interessantes zu berichten. Pädagogische oder psychologische Ausbildung hat kein Angstellter, auch das handwerkliche Rüstzeug wird aus der Erfahrung geholt. Dafür ist viel Geduld, eine liebevolle Einstellung und Fröhlichkeit spürbar. Die geistig behinderten Männer sitzen gemütlich draussen und formen Kugeln aus Ton. Frauen arbeiten in der hellen und grossen Küche oder sind in der Wäscherei trotz beträchtlicher Hitze beim Bügeln. Danach fahren wir auch noch in die Psychiatrie. Da Rosie 3 Jahre hier gearbeitet hat, dürfen wir überall reinschauen und uns mit dem Personal und den Patienten unterhalten. Franziska geniesst den Einblick in die sozialen Institutionen der Mennoniten und viele Ideen verhindern abends das Einschlafen. Viel gäbe es hier zu tun, Frühförderung oder sogar heilpädagogische Schulen gibt es hier nicht.

    Am 6. Februar findet statt, was vor einem halben Jahr sorgfältig eingefädelt wurde: Felix Tochter Nicla kommt für 6 Monate nach Rosaleda. Bei Ernst möchte sie mithelfen und sich während dieser Auszeit Ideen für die Zukunft holen. Wir freuen uns sehr, dass alles geklappt hat und kramen unsere Reiseführer  und Karten hervor. Langsam wird es Zeit zusammenzupacken und Hidalgo zu satteln.

    Zu der Galerie Paraguay 2

    Posted by felix @ 0:02

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